Macht doch mal…

Ihr seid es doch,

die dort oben sitzen

auf ihren Kunstledersessel schwitzen

und sagen: Ich hab die Macht!

Ihr seid es doch,

die uns hier unten zeigen

wie ihr mit Trompeten und mit Geigen

den Paukenschlag nicht mehr gehört habt.

Ihr seid es doch,

die unnötig Gelder verbraten

und dann immer viel zu lang warten

bis die wichtigen Dinge angesprochen werden.

Wir sind es,

die hier unten bleiben

und zu euch nach oben zeigen,

damit ihr eure Macht nutzt.

Macht doch mal,

dass erneuerbare Energien sich verbreiten,

statt Kohlekraftwerken.

Macht doch mal,

dass Menschen eher schreiten

als Auto zu fahren oder ins Flugzeug zu steigen.

Macht doch mal,

dass öffentlicher Personennahverkehr

auch tatsächlich Menschen aus der Ferne bringt her.

Macht doch mal,

dass Mikroplastik sich minimiert,

damit die Welt, so wie sie kreiert,

wieder aufatmen kann.

Macht doch mal,

dass Geschäfte ihre Lichter ausschalten

um die Luft nachts sauber zu halten.

Macht doch mal…! ©RMH

Von Kamelen und Windrädern

Das Kamel staunte. Noch nie hatte es ein Windrad dieser Größe gesehen. Es wusste zwar, dass an der Küste so einiges anders lief als in den heimischen Gefilden, aber mit solch überdimensionalen Bauten hatte es nicht gerechnet. Ob wohl schon mal jemand versucht hatte, dort oben drauf zu klettern? Mit Sicherheit. Die Aussicht musste ja endlos sein, bis über den Deich und weiter. Langsam trabte es voran, die Hufe im Grad, den Kopf in den Wolken.

In der Ferne entdeckte es immer mehr Windräder, als hätten sie sich zu einer großen Versammlung zusammengefunden. Das Kamel musste schmunzeln. Die beiden dort hinter dem Pferdezaun, die liefen etwas schneller als der Rest. Ob sie wohl gerade ein hitziges Gespräch führten, gar diskutierten? Vielleicht wurde eines von ihnen in den Windschatten des anderen gedrängt? Oder es langen Familienprobleme vor. Was auch immer es war, es schien die Windräder in Rage zu versetzen.

Hinter den Büschen schaute ein Pferd hervor und musterte das Kamel. „Was guckst’n wie’n Auto?! Noch nie ein Kamel gesehen?“, dachte das Kamel und war froh, diesen Gedanken nicht laut ausgesprochen zu haben. Gerade letzte Woche hatte es sich mit dem Esel von gegenüber angelegt, weil dieser schon wieder Löffel in den Briefkästen der Nachbarschaft verteilt hatte. Die Demenz schien auch Esel nicht zu verschonen. Das Kamel hatte sich einen sarkastischen Kommentar nicht verkneifen können, und schon ging das Gebrüll los. Nein, auf eine Zugabe konnte das Kamel gut verzichten.

Es wandte seinen Blick vom Pferd ab, ließ die streitenden Windräder links liegen und trottete weiter. Auch die Gerüche hier oben an der Küste waren anders. Der Wind trug ein buntes Bouquet mit sich, das von frischer Hagebutte bis ranziger Salzhering reichte. „Faszinierend, dieser Norden!“, dachte das Kamel, als es auf einen Untergrund aus Beton stieß. Ohne es zu merken war es wieder auf der Straße gelandet. Das grüne Grad war gemütlicher gewesen zum Laufen, aber da die Möwen bereits ein Schlaflied anstimmten, war es wohl an der Zeit, langsam zurück zu laufen.

„Na, da werde ich Liselotte aber was erzählen können“, freute sich das Kamel „wenn sie mit Kohlroulade und Gurkensalat auf mich wartet“. ©RMH

Over the rooftops

Wenn die Erinnerungen einen in eine andere Welt und somit die Gedanken direkt in eine andere Sprache verschlagen, dann entsteht schon mal eine kleine Sehnsucht und das Fernweh wächst…

She felt as feminine as she had’nt felt in a while. Her radio played a smooth jazz station, while she was doing the dishes in her morning gown with a face mask on. It wasn’t because she felt pretty, not at all. Her day had been too long, filled with too much work and too much stress. The dark circles under her eyes told stories about long nights without any peaceful sleep lately.

But there was a thought, a rembemberance that just came back from time to time and gifted her with a satisfied smile on her dry lips. The cold winter air had it all dried out. Her lips, her skin, her hair and for most parts her mood as well. She was a functioning body, a husk with no sign of joy left. Except this one thought about last summer.

It was always last summer.

Especially this one night. Above the roof tops of a little town on the coast. They were talking, they were laughing. He was stroking her leg, gently. She could still feel his strong hand through the fabric of her dress. They had known each other for some time by then, but it was their first date. The first real one at least, if you don’t count coffee as such.

Later that night they walked through the mild summer night. Many people had been strolling around, listening to the musicians on the street corner or just starring at the water.

It was exciting to be the woman by his side, because he knew most people in town. Every now and then he would greet someone, introduce her to friends or joke with a neighbor. He was not ashamed of her. A feeling she had not known before.

They climbed up on the rooftop and started slow dancing to the music of the streets. He pulled her close, his breath heavy on her skin.

„You are so beautiful“ he said, kissing the bare skin of her neck. The moment she got chills from head to toe she felt like a woman for the first time. ©RMH

Red River

Kürzlich habe ich mich selbst Mal neuen Herausforderungen gestellt, nicht nur sprachlich sondern ebenfalls stilistisch. Eines der Ergebnisse ist dieses kurze Gedicht, das ich gerne teilen würde.

Red river running

Through the dark of night

The silence broken

By the young woman

Seen at waterside

Es war eine ziemliche Herausforderung für mich allen Anforderungen gerecht zu werden, die die Aufgabe an mich stellte. Nicht nur musste ich eine bestimmte Anzahl an Worten aus einem vorgegebenen Pool an Worten auswählen (red, river, dark, night, to see), sonder ebenso musste jeder Vers genau fünf Silben haben, das Gedicht nur aus einer Strophe mit fünf Versen bestehen und ein unechter Reim integriert werden.

Ich bin überrascht, was dabei rausgekommen ist, vor allem da Poesie nicht wirklich mein Metier ist. Ich hoffe es gefällt 🙂 ©RMH

Das Wiedersehen

Das erste Herbstlauf hatte angefangen sich orange-rot und braun zu färben, als ich durch die Straßen meines ehemaligen Zuhauses lief. Seit ein paar Tagen war ich nun wieder in Deutschland, nachdem ich einige Jahre im Ausland gelebt hatte. Es war so ungewohnt durch die vertrauten Straßen der vier Jahre meines Studiums zu schlendern, und gleichzeitig zu wissen, dass diese Stadt nicht mehr mein Wohnort sein würde, wobei sie noch immer so vertraut war.

Ich hatte niemanden gesagt, dass ich hier sein würde, da ich zunächst die Ruhe genießen wollte und vielleicht das ein oder andere bekannte Gesicht zu überraschen versuchte.

Gerade als ich durch das neue Einkaufszentrum strich, dass bei meinem Auszug noch mitten im Bau steckte, entdeckte ich eine mir wohl vertraute Silhouette in der Ferne. Für fast drei Jahre waren wir Kollegen und hatten so einige lange Nächte in der Bar verbracht, uns über verrückte Gäste amüsiert und gestritten, wer als erstes Pause machen würde.

Wir näherten uns langsam an und noch hatte er nicht begriffen, dass wir uns über den Weg laufen würden. Ich beobachtete ihn und musste grinsen, als ich sah wie sein Gesicht erhellte, als er mich erkannte.

„Was machst du denn hier?“, fragte er überrascht, nahm mich in den Arm und wirbelte mich im Kreis herum.

„Wieso bist du hier? Wieso hast du nicht Bescheid gegeben? Wie geht’s dir? Gut siehst du aus!“ Er hatte mich wieder abgesetzt und war einen Schritt zurück getreten. Es war also aufgefallen, dass ich abgenommen hatte und mein Haar nun einen kürzeren Bob-Schnitt hatte. Ich lachte und freute mich sehr, einen alten Freund wiederzusehen.

Er lud mich direkt zu sich nach Hause ein für den Abend, damit wir bei kühlen Getränken alles weitere besprechen konnten, wie es uns ergangen war und was in Zukunft vor uns lag. Ein lustiger Abend sollte es werden.

Als ich aufwachte, stellte ich fest, dass es noch immer Januar war und ich noch immer im Ausland lebte. Alles nur geträumt. Dennoch ein schöner Gedanke an eine Wiedervereinigung, um in das Wochenende zu starten. ©RMH

Sonntags morgens…

Es war ein kalter und grauer Sonntagmorgen, einer dieser Morgende an denen ich lieber im Bett liegen geblieben wäre, als aufzustehen. Doch ich wusste, dass ich meiner Familie definitiv eine Freude machen würde, wenn sie zu frischem Kaffee und Brötchen aufwachen würden. Müden Schrittes schlenderte ich durch die Nachbarschaft, in der ich meine Kindheit verbracht hatte. Viele schöne Erinnerungen an das Toben in verschiedenen Gärten und lange Sternschnuppennächte in den Sommerferien zogen vor meinem inneren Auge vorbei. Ein Lächeln huschte über mein noch immer zerknautschtes Gesicht. Ich zog meine Mütze etwas tiefer, sodass mein fettiger Haaransatz nicht zu erspähen war, der später definitiv etwas Zuwendung bekommen würde. Meine Motivation hatte ebenfalls nicht gereicht, mir eine meiner Jeanshosen aus dem Schrank zu ziehen, sodass meine graue, alte und viel zu große Jogginghose herhalten musste.

Als ich dem Bäcker an der Ecke näher kam, stieg mir bereits der Duft von frisch geröstetem Kaffee und warmen Brötchen in die Nase. Einer der Vorteile außerhalb der Kernstadt zu leben war definitiv, dass man die aufregendsten Plätze entdecken konnte, wie eben diesen Bäcker. Neben den frischen Backwaren, die ausschließlich aus regionalen Produkten hergestellt wurden, war er nämlich ebenfalls eine Kaffeerösterei, die ihren Kaffee an viele Cafés der Stadt verteilte. Die Schlange war lang, selbstverständlich, denn es war der einzige Ort in der Umgebung der an einem Sonntag geöffnet hatte.

Die warme und leicht feuchte Luft, die mir entgegenströmte als ich durch die Eingangstür trat, ließ meine Brillengläser beschlagen. Es dauerte einen Moment, bis ich wieder einen Durchblick hatte. Während ich merkte, wie sich die Hitze langsam unter meiner Winterjacke anstaute, hörte ich vor mir in der Schlange eine Stimme, die mir wohl bekannt war. Zwei Jahre hatte ich ihr mehrfach in der Woche gelauscht und die breiten Schultern verträumt angestarrt, die zu ihr gehörten. Mein Blick wanderte durch das Menschenslalom bis vor zum Tresen, wo Markus stand und seine Brötchenbestellung aufgab. Er trug seine Haare inzwischen kürzer als damals, was ihn wesentlich erwachsener aussehen ließ. Sein eleganter, dunkelgrüner Mantel und die Lederschuhe unterstrichen das Bild eines erfolgreichen jungen Mannes ebenfalls. Er lachte über den Witz der Verkäuferin, seine Stimme noch immer so rau und warm wie damals und ich sah vor meinem inneren Auge, wie sich die Grübchen um seinen Mund formten.

Es fühlte sich an, als wäre ich mit Betreten der Bäckerei wieder sechs Jahre jünger und unsterblich verliebt. Mein Herz klopfte etwas schneller als zuvor und ich wünschte mir so sehnlichst, dass ich vor dem Verlassen des Hauses wenigstens eine Bürste in die Hand genommen hätte. Doch dafür war es nun zu spät. Markus nahm seine Bestellung entgegen und machte sich auf den Weg aus dem Laden. Kurz bevor er an mir vorbei lief sah er von seinem Handy auf und unsere Blicke streiften sich kurz. Wie ein Elektroschock fuhr es durch mich hindurch. Seine haselnussbraunen Augen leuchteten, so wie damals.

„Oh hey“, grüßte er mich überrascht, machte jedoch keine Anstalten stehen zu bleiben.

„Hey“, krächzte ich zurück und räusperte mich. Das hätte ich vermutlich zuerst tun sollen, denn so klang ich, als hätte ich die letzten drei Nächte kettenrauchend verbracht.

„Schönen Sonntag“, wünschte er noch, bevor er hinaus in die Kälte trat.

Ich fühlte mich als wäre ein großer Trecker über mich hinüber gerollt. Mit einem übergewichtigen Bauern, der zwei mit Backstein gefüllte Anhänger hinter sich herzog.

„Glanzleistung!“, dachte ich und wünschte, dass sich nun ein Loch im Boden auftun würde.

Das Leben hatte ihm gut getan. Die letzten fünf Jahre seit dem Abitur hatten ihn nur noch attraktiver und interessanter gemacht. Wieso musste er mir genau hier über den Weg laufen? Wenn ich in meinem verschlafenen, Sonntagmorgen-Obdachlosenoutfit durch die Gegend lief.

„Das Leben hat mir auch gut getan. Ich lebe im Ausland!“, hätte ich ihm am liebsten erzählt, doch jetzt war es dafür zu spät. Glaubwürdig wäre es in diesem Aufzug sowieso nicht gewesen.

In meinen Gedankenloch versunken hörte ich die Stimme der Verkäuferin nur gedämpft, die nach meiner Bestellung fragte. Ich antwortete wie ein Roboter, ohne darüber nachdenken zu müssen und wusste, dass ich den Rest meines Sonntags unter der Decke versteckt verbringen würde und Markus auf Instagram verfolgen würde. Damn social media! ©RMH

Lebenswelten

Die Schlange war lang. Nicht nur vor ihr standen mindestens 30 Leute, auch hinter ihr wuchs das Ende stetig um weitere Passagiere. Wenn der Check-In so langsam weiter gehen würde, würde der Flug mit Sicherheit Verspätung haben. Eine Verspätung die für sie zum Problem würde.
Inzwischen war sie geübt in den Abläufen des Flughafen-Trotts, mehr als 15 Mal war sie innerhalb der letzten 15 Monate in und aus einem Flugzeug gestiegen.
„Wenn das so weiter geht, kommen wir nie an“, sagte die Frau vor ihr in der Schlange.
„Das befürchte ich auch. Ich muss meinen Anschluss in Reykjavik bekommen und viel Zeit bleibt dort nicht“, seufzte sie.
„Das geht mir ähnlich. Ich bin zwar schon häufig über Island geflogen, aber sowas habe ich auch noch nicht erlebt. Darf ich fragen wo es für dich hingeht?“
Sie fing an zu erzählen, dass sie zunächst nach Washington D.C. flog um dort ein paar Freunde zu besuchen, die vor einigen Jahren ausgewandert waren. Die typische Touristentour hatte sie schon häufiger hinter sich gebracht, daher freute sie sich besonders, einfach in Georgetown in ein nettes Cafe zu gehen, einen Mandelmilch-Latte zu trinken und dem bunten Treiben vor den Fenstern zuzuschauen. Studenten auf dem Weg zur Uni oder zum Nebenjob, Einheimische die noch ein paar Besorgungen machen mussten, Hektik und Entschleunigung zugleich.
Einen Abend würden sie zu einem Konzert in der Capitol One Arena gehen, ansonsten zusammen kochen und die Zeit genießen, die sie hatten.
In einer Woche würde sie ihre Reise gen Norden antreten, da sie ein Praktikum bei der New York Times anfangen würde. Schon seit Jahren hatte sie vom Journalismusstudium geträumt und nun endlich, kurz vor ihrem Master, hatte sie das unglaubliche Glück, von den besten der Besten zu lernen. Drei Monate würde sie nun den Big Apple ihre Heimat nennen dürfen, mit dem Flow der Stadt gehen und all die Ecken erkunden, die sie bisher nur über den Fernsehbildschirm bewundert hatte.
„Wow, dann wünsche ich dir viel Erfolg bei der Times. Ich fliege zurück zu meiner Familie in Denver. Ich bin vor mehr als 20 Jahren ausgewandert, wollte ursprünglich nur zwei Jahre bleiben“, erzählte die Frau. Sie unterhielten sich über die wunderbaren Berge in Denver und die stickige Hitze in D.C., während die Schlange nur ganz allmählich voran schritt. Schließlich waren beider Koffer aufgegeben und ihre Wege trennten sich.

Sie ließ sich auf den mehr oder weniger komfortablen Flugzeugsitz fallen und atmete tief durch. Sie hatte ihren Anschlussflug bekommen und hatte nun mehr als sechs Stunden Zeit, sich auf das zu freuen was auf sie zukam. Neben ihr, sie hatte glücklicherweise ihren Sitzplatz auf einen Gangplatz geändert, saßen zwei junge Frauen, die etwa in ihrem Alter waren.
Im Laufe der Zeit kamen sie ins Gespräch und sie lernte, dass beide auf die George Mason University in Fairfax gingen und über Silvester ein paar Tage in Berlin verbracht hatten. Beide waren übermüdet und hungrig, aber dennoch hatten sie ein sehr interessantes und aufschlussreiches Gespräch.
Sie spielte gedankenverloren mit dem Silberring an ihrer linken Hand und erzählte, dass sie auf dem Rückweg zu ihrem Ehemann sei, der sie leider dieses Jahr nicht über Weihnachten begleiten konnte. Er hatte sich vor wenigen Jahren mit einem Start-Up Unternehmen selbstständig gemacht und verbrachte die Feiertage in diesem Jahr damit, in ihrem gemeinsamen Loft-Appartment über den Dächern Baltimores Papierkram zu wälzen, da sein ehemaliger Geschäftspartner über Monate ordentlich Mist verzapft hatte. Normalerweise wären sie beide am 20. Dezember nach Deutschland geflogen, um Ihre Familie in einem kleinen Örtchen an der Nordsee zu besuchen. Sie wären stundenlang durch Regen und Sturm am Strand spaziert, bevor sie wieder zuhause einkehrten, wo bereits Tee und heiße Schokolade mit Keksen auf sie warteten. Es war jedes Jahr aufs Neue ihre liebste Zeit, nicht nur, weil sie endlich ihre Familie und Freunde wiedersah, sondern auch, weil ihr ganzes Leben entschleunigt wurde. Baltimore war eine Stadt die stresste. Am liebsten wäre sie schon lange dort weg und wäre sesshaft geworden, wo es mehr Ruhe und Auszeiten gab. Immerhin hatte Zac nachgegeben, und sie waren von seiner Junggesellenwohnung in Downtown in ihr jetziges Appartement im Ortsteil Canton gezogen, Hipster-Town, wie er es nannte.
Würde alles nach Plan laufen und seine unzähligen Überstunden zwischen den Jahren sich auszahlen, verkaufte er sein Unternehmen in etwa fünf Jahren und sie wären frei und ungebunden. Wer weiß, wo das Leben sie als nächstes hintragen würde.

Die Zeit verging wortwörtlich wie im Flug, sodass sie schon bald ihren bunten Rucksack aus den Overhead-Bins ziehen konnte und das Flugzeug verließ, welches nach einem der vielen isländischen Vulkane benannt war. Am Gepäckband wartete sie, bis ihr qualvoll malträtierter Koffer zum Vorschein kam, schnappte diesen und saß schon bald in einem Uber nach Hause. Mit dem Verlassen des Flughafens wurde der Silberring wieder zu einfachem Modeschmuck und sie zu einer jungen Frau, die bei einer Gastfamilie lebte und auf einen kleinen, quirligen Jungen aufpasste. Die letzten 11 Stunden jedoch, hatte sie sein können, wer sie wollte, umgeben von der Freiheit der Wolken. ©RMH

Alles.

Der Herbst hatte inzwischen Laub in allen Farben und Formen von den Bäumen gepustet, das nun wild über die Straßen fegte. Die Sonne hatte sich bereits vor zwei Stunden hinter dem Horizont versteckt und die Temperaturen waren beinahe eisig.
Sie hatte sich nach Feierabend nur schnell einen Pullover übergezogen und ihren dicken, flauschigen Schal um Hals und Kopf gebunden. Der Tag hatte früh begonnen und die Kinder forderten sie mehr als üblich. Die tiefen Schatten unter ihren Augen erzählten Geschichten von Nächten mit wenig Schlaf, viel draußen Tobespaß mit den Kindern und dem dringlichen Bedürfnis einer Auszeit
Seit zwei Wochen fütterte sie nun die Haustiere von Freunden der Familie. Jeden Morgen und jeden Abend fuhr sie in ihrem kleinen, alten Honda vor das Haus am Wasser vor. Ein ausgiebiges Gähnen entfuhr ihrer Kehle, als sie die Autotür behutsam hinter sich zufallen ließ. Sie erschrak. In der Küche brannte Licht. Hatte sie vergessen es beim Füttern am Morgen auszuschalten? Aber es war doch schon hell gewesen. Waren die Hausbesitzer früher als geplant zurück? Sie ballte eine Faust um den Autoschlüssel, welcher im Notfall als Gegenstand zum Wehren dienen konnte und gab vorsichtig den Sicherheitscode der Haustür ein. Das Schloss entsperrte mit einem mechanischen Klicken und sie schob die Tür auf. Auch wenn ihr Herz raste, versuchte sie die Atmung möglichst ruhig zu halten.
Innerlich zitternd schlich sie um die Ecke in die hell erleuchtete Küche, in der sie Blumen auf der Küchenbar fand, hübsch drapiert in einer Vase, die heute morgen noch nicht dort standen.
Obwohl sie bei jedem Horrorfilm den Kopf schüttelte über die Naivität der Protagonisten, hörte sie wie ihre eigene Stimme ein unsicheres „Hallo?“ in das große, leere Haus erklingen ließ. Sie hielt den Atem an, um zu lauschen ob es eine Reaktion gab. Stille. Sie fühlte sich, als wäre sie in einem der unzähligen Halloween-Filme gefangen, die seit Wochen überall zu sehen waren.
Gerade als sie das Katzenfutter aus dem Schrank nehmen wollte, um ihren Aufgaben nachzugehen, erschien ein ihr wohlbekannter Kopf um die Ecke.
„Du hast mich zu Tode erschreckt!“, entfuhr ihr ein Vorwurf an den Sohn der Hausbesitzer, der nun schelmisch grinste.
„Was machst du hier? Ich dachte du musst die ganzen Tage arbeiten und dein Auto ist kaputt?“, erkundigte sie sich weiter, um mehr über die Situation zu erfahren. Das Grinsen auf seinem Gesicht wurde breiter und seine Augen fingen an zu leuchten. Diese Augen, von denen sie seit dem ersten Blick fasziniert war. Tiefgrün, leuchtend ehrlich und treuer als die eines alten Golden Retrievers. Sie wusste von Anfang an, dass es absolut keine gute Idee war, von einem jungen Mann so begeistert zu sein, der mit ihrem Arbeitgeber befreundet war und ihres Wissens zudem in einer Beziehung steckte. Seine Eltern waren für vier Wochen im Urlaub und das Haus stand leer, da er außerhalb der Stadt wohnte und arbeitete. Dies war auch der Grund, weshalb er sich nicht um die Tiere kümmern konnte.
„Ich dachte ich leiste dir Gesellschaft“, sagte er ohne den Blick von ihr abzuwenden. Ihre Blicke hatten sich ineinander verschlungen, sodass wegschauen unmöglich war. Auch wenn sie in diesen Situationen sonst immer verlegen den Blick senkte.
„Aber wie bist du her gekommen? Und wieso hast du nicht Bescheid gegeben?!“, ihre Stimme klang unsicher, aber gleichzeitig ein wenig vorwurfsvoll und froh. Sie sollte nicht froh sein ihn zu sehen. Ihr Herz hätte nicht anfangen sollen doppelt so schnell zu schlagen als er in ihrem Blickfeld erschien. Aber auf diese Reaktionen hatte sie trotz allem Bemühen keinen Einfluss mehr.
„Es wäre nur der halbe Spaß gewesen, wenn du Bescheid gewusst hättest. Ich musste dich sehen und konnte nicht warten, bis meine Eltern wieder da sind.“ Seine Stimme wirkte beruhigend. Jede Zelle seines Körpers wirkte so entspannt und ausgelassen, während jede Zelle ihres Körpers vibrierte und sie befürchtete bald zu zerplatzen.
Er trat behutsam auf sie zu und nahm sie in den Arm. Aber es war keine normale Umarmung wie sonst. Es war nicht das typische Hallo-wie-geht’s-umarmen, bei dem eigentlich nur ein Arm wirklich arbeitete. Nein, es war ein richtiges In-den-Arm-nehmen. Er hatte seine Arme hinter ihrem Nacken verschlungen, sodass ihr Kopf an seiner Brust ruhte. Sie konnte sein Herz schlagen spüren, ein starker, ruhiger Rhythmus. Sein Duft stieg in ihre Nase, und sie konnte nicht einmal beschreiben, wonach er roch. Nach allem, was sie sich wünschen konnte. Nach einem langen Arbeitstag, aber trotzdem frisch, nach Überraschung und Geborgenheit, nach Weihnachten und Geburtstag an einem Tag. Das Blut in ihren Adern kochte. Sie war froh, dass er nicht sehen konnte, wie ihre Wangen nun die Farbe ihres roten Pullovers angenommen hatten. Die Zeit schien still zu stehen, als der er-und-sie-Knoten in der hellen Küche in einem sonst komplett dunklen Haus stand. Niemand sprach, es war eine befreiende Stille die sie umgab.
Sie wusste nicht, wie lange sie sich schon in den Armen lagen, doch sie wusste, dass es zu lange für Freunde war und definitiv nicht angebracht. Aber sie konnte nicht los lassen. Ihre Arme waren wie festgeklebt an seiner schmalen Hüfte. Und auch er machte keine Anstalten, sich zu bewegen.
Nach einer Ewigkeit, es hätten Minuten, Stunden oder Tage sein können, sah sie zu ihm auf. Alles in ihr hatte sich entspannt, ihre Müdigkeit war verflogen und sie war sich fast sicher, dass beide Herzen nun im gleichen Takt schlugen.
„Was passiert hier?“, fragte sie in einem gebrochenen Flüsterton.
Er antwortete nicht, sondern sah ihr liebevoll in die Augen. Seine große Hand strich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht, ihre Haut kribbelte, als er sie berührte. Sie spürte, wie er sie wieder etwas näher an sich heranzog, sodass nicht mal eine Feder zwischen ihren Körpern Platz gehabt hatte. Vorsichtig kam er ihrem Gesicht nun näher, beugte sich leicht vor, bis ihre Lippen sich berührten. Ein zunächst zaghafter, dann intensiver werdender Kuss, der sich so falsch, aber gleichzeitig so sensationell richtig anfühlte. Ein Kuss, der alles verändern würde. Alles.  ©RMH

Später einmal….

Einer dieser Satzbausteine, den jeder von uns sicher schon allzu oft gehört hat. „Du wirst später einmal…“ und dann geht es weiter mit den verrücktesten Dingen: „…in einem großen Haus leben.“ „… sieben Hunde haben.“ „…eine super Mama sein.“ „…Präsident der Vereinigten Staaten werden.“ Was immer es ist, was wir später einmal werden sollten, woher können sich die Menschen, die uns mit so viel Hoffnung beseelen, so sicher sein? Haben sie eine Kristallkugel, in der sie jeden Abend vor dem Schlafen gehen einsehen können, was die Zukunft für sie und ihre Mitmenschen bringt? Oder versendet das Schicksal neuerdings Briefe und informiert uns über die Umstände die kommen werden?

Wann immer ich darüber nachdenke, was die Zukunft für mich bringen wird, habe ich ein ähnliches Bild vor Augen. Nichts aufregendes, bloß ein Leben wie ich es mir erhoffe, mit einem Menschen an meiner Seite, der einige meiner Hoffnungen teilen kann. Und wann immer ich mit Menschen darüber spreche, bekomme ich den gleichen Satz zu hören „So wird es ganz sicher später einmal werden!“

Später einmal. In den vergangenen Jahren habe ich immer mehr gelernt, dass jetzt eigentlich schon fast später ist. Wenn ich mich umsehe werden in meinem Bekanntenkreis Kinder in die Welt gesetzt, das Bündnis für die Ewigkeit geschlossen oder große Häuser mit Garage und Garten gebaut. Ich hingegen fühle mich noch immer, als wäre ich gestern erst mit einem blutenden Knie vom Spielplatz gekommen, weil ich von der Schaukel gefallen bin. Es gab ein Pflaster und ein Küsschen von Mama, und der Schmerz war vergessen. Heute lösen sich diese Probleme leider nicht mehr so einfach, und die Zukunftsvisionen werden immer verwaschener. Wann immer ich jetzt jemanden sagen höre, dass alles gut werden wird, möchte ich ihn am liebsten anschreien. „Woher willst du das wissen?“ Und dann kommt dieses Gefühl von Ohnmacht, das wie eine schwarze Gewitterwolke über mir hängt und die Aufschrift Zukunft trägt.                                                                                                            ©RMH