Es war ein kalter und grauer Sonntagmorgen, einer dieser Morgende an denen ich lieber im Bett liegen geblieben wäre, als aufzustehen. Doch ich wusste, dass ich meiner Familie definitiv eine Freude machen würde, wenn sie zu frischem Kaffee und Brötchen aufwachen würden. Müden Schrittes schlenderte ich durch die Nachbarschaft, in der ich meine Kindheit verbracht hatte. Viele schöne Erinnerungen an das Toben in verschiedenen Gärten und lange Sternschnuppennächte in den Sommerferien zogen vor meinem inneren Auge vorbei. Ein Lächeln huschte über mein noch immer zerknautschtes Gesicht. Ich zog meine Mütze etwas tiefer, sodass mein fettiger Haaransatz nicht zu erspähen war, der später definitiv etwas Zuwendung bekommen würde. Meine Motivation hatte ebenfalls nicht gereicht, mir eine meiner Jeanshosen aus dem Schrank zu ziehen, sodass meine graue, alte und viel zu große Jogginghose herhalten musste.
Als ich dem Bäcker an der Ecke näher kam, stieg mir bereits der Duft von frisch geröstetem Kaffee und warmen Brötchen in die Nase. Einer der Vorteile außerhalb der Kernstadt zu leben war definitiv, dass man die aufregendsten Plätze entdecken konnte, wie eben diesen Bäcker. Neben den frischen Backwaren, die ausschließlich aus regionalen Produkten hergestellt wurden, war er nämlich ebenfalls eine Kaffeerösterei, die ihren Kaffee an viele Cafés der Stadt verteilte. Die Schlange war lang, selbstverständlich, denn es war der einzige Ort in der Umgebung der an einem Sonntag geöffnet hatte.
Die warme und leicht feuchte Luft, die mir entgegenströmte als ich durch die Eingangstür trat, ließ meine Brillengläser beschlagen. Es dauerte einen Moment, bis ich wieder einen Durchblick hatte. Während ich merkte, wie sich die Hitze langsam unter meiner Winterjacke anstaute, hörte ich vor mir in der Schlange eine Stimme, die mir wohl bekannt war. Zwei Jahre hatte ich ihr mehrfach in der Woche gelauscht und die breiten Schultern verträumt angestarrt, die zu ihr gehörten. Mein Blick wanderte durch das Menschenslalom bis vor zum Tresen, wo Markus stand und seine Brötchenbestellung aufgab. Er trug seine Haare inzwischen kürzer als damals, was ihn wesentlich erwachsener aussehen ließ. Sein eleganter, dunkelgrüner Mantel und die Lederschuhe unterstrichen das Bild eines erfolgreichen jungen Mannes ebenfalls. Er lachte über den Witz der Verkäuferin, seine Stimme noch immer so rau und warm wie damals und ich sah vor meinem inneren Auge, wie sich die Grübchen um seinen Mund formten.
Es fühlte sich an, als wäre ich mit Betreten der Bäckerei wieder sechs Jahre jünger und unsterblich verliebt. Mein Herz klopfte etwas schneller als zuvor und ich wünschte mir so sehnlichst, dass ich vor dem Verlassen des Hauses wenigstens eine Bürste in die Hand genommen hätte. Doch dafür war es nun zu spät. Markus nahm seine Bestellung entgegen und machte sich auf den Weg aus dem Laden. Kurz bevor er an mir vorbei lief sah er von seinem Handy auf und unsere Blicke streiften sich kurz. Wie ein Elektroschock fuhr es durch mich hindurch. Seine haselnussbraunen Augen leuchteten, so wie damals.
„Oh hey“, grüßte er mich überrascht, machte jedoch keine Anstalten stehen zu bleiben.
„Hey“, krächzte ich zurück und räusperte mich. Das hätte ich vermutlich zuerst tun sollen, denn so klang ich, als hätte ich die letzten drei Nächte kettenrauchend verbracht.
„Schönen Sonntag“, wünschte er noch, bevor er hinaus in die Kälte trat.
Ich fühlte mich als wäre ein großer Trecker über mich hinüber gerollt. Mit einem übergewichtigen Bauern, der zwei mit Backstein gefüllte Anhänger hinter sich herzog.
„Glanzleistung!“, dachte ich und wünschte, dass sich nun ein Loch im Boden auftun würde.
Das Leben hatte ihm gut getan. Die letzten fünf Jahre seit dem Abitur hatten ihn nur noch attraktiver und interessanter gemacht. Wieso musste er mir genau hier über den Weg laufen? Wenn ich in meinem verschlafenen, Sonntagmorgen-Obdachlosenoutfit durch die Gegend lief.
„Das Leben hat mir auch gut getan. Ich lebe im Ausland!“, hätte ich ihm am liebsten erzählt, doch jetzt war es dafür zu spät. Glaubwürdig wäre es in diesem Aufzug sowieso nicht gewesen.
In meinen Gedankenloch versunken hörte ich die Stimme der Verkäuferin nur gedämpft, die nach meiner Bestellung fragte. Ich antwortete wie ein Roboter, ohne darüber nachdenken zu müssen und wusste, dass ich den Rest meines Sonntags unter der Decke versteckt verbringen würde und Markus auf Instagram verfolgen würde. Damn social media! ©RMH